Hans Albert: Warum absolute Gewissheit eine Illusion ist - und wie wir trotzdem klug entscheiden

Modernes Problem + Albert-Lösung

Stell dir vor, du scrollst durch deinen News-Feed: Eine Studie behauptet, Kaffee sei gesund. Die nächste warnt vor Kaffee. Ein KI-generierter Artikel erklärt dir Quantenphysik, während ein anderer vor KI-Halluzinationen warnt. Ein Experte sagt dies, drei andere das Gegenteil. Wem glaubst du?

Diese Orientierungslosigkeit ist kein Zeichen unserer Zeit - sie ist ein uraltes philosophisches Problem. Hans Albert, ein deutscher Philosoph des 20. Jahrhunderts, hat es auf den Punkt gebracht: Absolute Gewissheit ist unmöglich. Aber bevor du jetzt verzweifelst: Diese Erkenntnis ist keine Katastrophe, sondern eine Befreiung.

Albert zeigte mit seinem berühmten "Münchhausen-Trilemma", dass jeder Versuch, etwas endgültig zu beweisen, scheitern muss. Doch statt uns in Skepsis zu lähmen, gibt er uns Werkzeuge an die Hand, intelligent mit Unsicherheit zu navigieren. In einer Welt voller Fake News, algorithmischer Entscheidungen und konkurrierender Expertenmeinungen ist diese Fähigkeit überlebenswichtig geworden.

Historischer Hintergrund + Entstehung der Idee

Hans Albert (1921-2019) war ein Schüler Karl Poppers und einer der wichtigsten Vertreter des kritischen Rationalismus im deutschsprachigen Raum. In seinem Hauptwerk "Traktat über kritische Vernunft" (1968) formulierte er eine radikale These: Alle Versuche, sichere Fundamente für unser Wissen zu finden, müssen scheitern.

Der historische Kontext ist wichtig: Albert schrieb in einer Zeit ideologischer Grabenkämpfe. Der Kalte Krieg tobte, in Deutschland stritten Marxisten und Liberale um die Deutungshoheit. Jede Seite beanspruchte die "wahre" Gesellschaftstheorie für sich. Albert sah in diesem Absolutheitsanspruch die Wurzel vieler Übel.

Seine Antwort war revolutionär: Statt nach der einen Wahrheit zu suchen, sollten wir lernen, mit Vorläufigkeit zu leben. Der Name "Münchhausen-Trilemma" spielt auf Baron Münchhausen an, der sich angeblich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zog - eine offensichtliche Unmöglichkeit, genau wie der Versuch, Wissen absolut zu begründen.

Was Albert von anderen Skeptikern unterschied: Er verfiel nicht in Nihilismus. Sein kritischer Rationalismus war konstruktiv. Wir können zwar nie sicher sein, aber wir können Theorien testen, Fehler eliminieren und uns der Wahrheit annähern - ohne sie je vollständig zu erreichen. Diese "Methode der kritischen Prüfung" macht uns handlungsfähig trotz fundamentaler Unsicherheit.

Kernkonzept: Das Münchhausen-Trilemma

Das Münchhausen-Trilemma ist elegant in seiner Einfachheit. Albert zeigt: Wenn wir versuchen, irgendeine Aussage vollständig zu begründen, landen wir unweigerlich in einer von drei Sackgassen:

1. Der infinite Regress: Jede Begründung braucht eine weitere Begründung. Warum ist Mord falsch? Weil es Leben zerstört. Warum ist Leben schützenswert? Weil... und so weiter, bis ins Unendliche. Wie ein Kind, das endlos "Warum?" fragt, kommen wir nie zu einem Ende.

2. Der Zirkelschluss: Die Begründung dreht sich im Kreis. Die Bibel ist wahr, weil sie Gottes Wort ist. Woher wissen wir, dass sie Gottes Wort ist? Es steht in der Bibel. Solche Zirkel finden sich überall - auch in scheinbar rationalen Argumentationen.

3. Der dogmatische Abbruch: Irgendwann sagen wir einfach: "Das ist halt so." Menschenrechte sind unveräußerlich - Punkt. Diese Setzungen mögen praktisch sein, aber sie sind nicht begründet.

Das Geniale: Albert zeigt nicht nur das Problem, sondern auch den Ausweg. Statt absolute Begründungen zu suchen, können wir Hypothesen aufstellen und kritisch prüfen. Eine Theorie muss nicht bewiesen werden - sie muss sich nur bewähren und offen für Kritik bleiben.

Nehmen wir ein aktuelles Beispiel: "Diese KI-Diagnose ist korrekt." Statt zu fragen "Ist sie absolut wahr?", fragen wir: "Welche Tests hat sie bestanden? Wo könnte sie irren? Gibt es bessere Alternativen?" So navigieren wir zwischen naiver Technikgläubigkeit und lähmender Skepsis.

Anwendungsbereiche

Fake News und Medienkompetenz Wenn eine sensationelle Nachricht viral geht, hilft Alberts Methode. Statt zu fragen "Ist das wahr oder falsch?", prüfen wir: Welche Quellen gibt es? Widersprechen sich Details? Cui bono - wem nützt diese Story?

Praktisch bedeutet das: Bei einer Schlagzeile über einen medizinischen Durchbruch checken wir: Peer-reviewed Studie oder Pressemitteilung? Wie groß war die Stichprobe? Was sagen andere Experten? Wir suchen nicht die absolute Wahrheit, sondern die beste verfügbare Annäherung. Dabei akzeptieren wir, dass wir uns irren können - und bleiben offen für Korrekturen.

Algorithmus-Entscheidungen und KI-Vertrauen Wenn eine KI deine Kreditwürdigkeit bewertet oder medizinische Diagnosen stellt, stehen wir vor dem Trilemma: Die Entwickler können den Algorithmus nicht vollständig begründen (Black Box), die Trainingsdaten sind nie perfekt, und irgendwo stecken immer unbegründete Annahmen.

Alberts Ansatz: Wir behandeln KI-Outputs als Hypothesen, nicht als Orakel. Eine KI-Diagnose ist ein Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen. Wir fragen: Wie oft lag das System daneben? Bei welchen Fällen versagt es typischerweise? Gibt es menschliche Gegenchecks? So nutzen wir KI intelligent, ohne ihr blind zu vertrauen.

Expertenmeinungen und Wissenschaftskommunikation Corona hat es gezeigt: Experten widersprechen sich, Studien werden revidiert, gestern galt X, heute Y. Viele Menschen reagieren mit Trotz ("Die wissen es ja auch nicht!") oder Unterwerfung ("Die Wissenschaft sagt...").

Albert würde beide Extreme ablehnen. Wissenschaft ist kein Dogma, sondern ein Prozess der Fehlerkorrektur. Wenn Virologen ihre Meinung ändern, ist das kein Versagen, sondern das System funktioniert. Wir navigieren, indem wir den aktuellen Konsens als beste verfügbare Orientierung nehmen - bereit, uns anzupassen, wenn neue Evidenz auftaucht.

Grenzen: Ehrliche Einordnung

Alberts kritischer Rationalismus ist kein Allheilmittel. Im Notfall haben wir keine Zeit für kritische Prüfung - wir müssen handeln. Ein Feuerwehrmann philosophiert nicht über Erkenntnistheorie, während das Haus brennt.

Zudem kann übertriebene Skepsis lähmen. Wer alles hinterfragt, kommt nie ins Handeln. Manchmal brauchen wir pragmatische "Arbeitsdogmen" - Grundannahmen, die wir vorläufig akzeptieren, um funktionieren zu können.

Schließlich: Nicht jeder hat Zeit und Kompetenz für kritische Prüfung. Die Alleinerziehende mit drei Jobs kann nicht jede Nachricht faktenchecken. Hier braucht es vertrauenswürdige Institutionen - ein Problem, das Albert nicht vollständig löst.

Diskussionsfragen

  1. Wie entscheidet ihr, welchen Informationen ihr vertraut, wenn absolute Sicherheit unmöglich ist?

  2. Wo stoßt ihr im Alltag auf das Münchhausen-Trilemma - endlose Warum-Ketten, Zirkelschlüsse oder "ist halt so"-Aussagen?

  3. Macht euch die Erkenntnis, dass es keine absolute Gewissheit gibt, freier oder verunsichert sie euch?

  4. Welche "Arbeitsdogmen" akzeptiert ihr im Alltag, obwohl sie nicht vollständig begründbar sind?

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