"Man wird nicht als Frau geboren" - Wie Simone de Beauvoir uns von unsichtbaren Ketten befreit
Serie: Philosophenzitate - Lesedauer: ca. 6 Minuten
Die unsichtbaren Drehbücher unseres Lebens
Stell dir vor, du betrittst morgens das Büro. Die Kollegin entschuldigt sich dreimal in einem Satz, der Kollege unterbricht sie mittendrin. Normal? Ja. Natürlich? Simone de Beauvoir würde sagen: Nein.
"Man wird nicht als Frau geboren, man wird es" - dieser Satz aus dem Jahr 1949 trifft uns heute noch ins Mark. Warum? Weil er eine unbequeme Wahrheit ausspricht: Vieles, was wir für unveränderliche Eigenschaften halten, sind antrainierte Verhaltensweisen. Und das betrifft nicht nur Frauen - auch Männer werden in Rollen gepresst, die sie nie bewusst gewählt haben.
De Beauvoir lädt uns ein, die Drehbücher zu hinterfragen, nach denen wir täglich spielen. Nicht um alles über den Haufen zu werfen, sondern um bewusst zu wählen: Welche Rolle will ich wirklich spielen? Und welche spiele ich nur, weil "man das so macht"?
Paris, 1949: Eine Philosophin stellt das Selbstverständliche in Frage
Simone de Beauvoir schrieb "Das andere Geschlecht" in einer Zeit, als die Gesellschaft nach dem Krieg zur alten Ordnung zurückkehren wollte. Frauen sollten wieder an den Herd, Männer zurück in die Rolle des emotionslosen Ernährers. De Beauvoir fragte: Warum eigentlich?
Ihre revolutionäre Erkenntnis: Es gibt einen Unterschied zwischen dem biologischen Geschlecht (Sex) und dem, was die Gesellschaft daraus macht (Gender). Ein Mädchen wird nicht schüchtern geboren - es lernt, dass Zurückhaltung "mädchenhaft" ist. Ein Junge kommt nicht mit unterdrückten Tränen zur Welt - er lernt, dass Weinen "unmännlich" ist.
De Beauvoir war selbst der lebende Beweis ihrer Theorie: Philosophin statt Hausfrau, kinderlos aus Überzeugung, in einer offenen Partnerschaft mit Sartre. Sie lebte vor, was sie lehrte: Wir haben mehr Spielraum, als uns die Gesellschaft glauben machen will. Gleichzeitig respektierte sie, dass andere Menschen andere Wege wählten.
Vom Impostor-Syndrom zum Allmachtsdruck: Die Berufswelt
"Ich bin nicht qualifiziert genug" - kennt das jemand? Interessanterweise zeigen sich erlernte Muster hier geschlechtsspezifisch unterschiedlich: Frauen zweifeln oft trotz exzellenter Qualifikation an sich, Männer kämpfen mit dem Druck, keine Unsicherheit zeigen zu dürfen. Beide Muster sind erlernt, beide schränken ein.
De Beauvoirs Perspektive entlarvt beide Fallen: Das Impostor-Syndrom der Frau und der Allmachtsdruck des Mannes sind zwei Seiten derselben Medaille. "Sei nicht zu selbstbewusst" lernen Mädchen, "Zeig keine Schwäche" lernen Jungs. Jahre später sitzt sie im Meeting und traut sich ihre Expertise nicht zu, er sitzt daneben und traut sich nicht, um Hilfe zu bitten.
Der Ausweg für beide: Erkenne das Muster. Wenn du das nächste Mal denkst "Ich bin nicht gut genug" oder "Ich muss das alleine schaffen", frage dich: Ist das meine echte Einschätzung oder die verinnerlichte Stimme gesellschaftlicher Erwartungen?
Praktischer Trick: Führe eine "Realitäts-Liste". Was kannst du wirklich gut? Wo brauchst du wirklich Unterstützung? Ohne die Filter gesellschaftlicher Erwartungen. Nach einem Monat wirst du klarer sehen, wer du wirklich bist versus wer du glaubst sein zu müssen.
Rollentausch in der Partnerschaft: Wer macht was?
"Mein Mann sieht den Dreck einfach nicht" - "Meine Frau kann kein Auto einparken" - Klassiker in vielen Beziehungen. Aber sieht er den Dreck wirklich nicht, oder hat er gelernt, dass Hausarbeit nicht seine Zuständigkeit ist? Kann sie wirklich nicht einparken, oder hat ihr niemand beigebracht, dass auch Frauen technisch versiert sein können?
De Beauvoirs Perspektive zeigt: Diese "Naturgesetze" sind oft nur Gewohnheiten. Viele Paare reproduzieren unbewusst die Muster ihrer Eltern. Er kümmert sich ums Finanzielle, sie um die emotionale Arbeit in der Familie. Nicht weil es so sein muss, sondern weil beide es so gelernt haben.
Aber - und das ist wichtig - wenn ein Paar sich bewusst für eine traditionelle Aufteilung entscheidet, ist das genauso legitim. Der Punkt ist das Bewusstsein: Machen wir es so, weil wir es so wollen, oder weil wir glauben, es müsste so sein?
Praktischer Ansatz: Macht eine "Kompetenz-Inventur". Listet auf, wer was übernimmt und warum. Die ehrliche Antwort lautet oft: "War schon immer so." Das kann der Moment für Veränderung sein - oder für die bewusste Bestätigung, dass es für euch so passt. Beides ist richtig, solange es eure Wahl ist.
Social Media und authentische Selbstdarstellung
Instagram zeigt es täglich: Perfekt gestylte Frauen, erfolgreiche Männer. De Beauvoir würde fragen: Zeigen diese Bilder, wer wir sind, oder wer wir glauben sein zu müssen?
Die digitale Welt verstärkt Rollenklischees oft noch. Marketing nutzt unsere erlernten Muster aus - Pink für sie, Blau für ihn. Aber interessant: Sowohl der traditionelle Perfektionsdruck als auch der neue Druck, "anders" sein zu müssen, können belasten.
Praktischer Ansatz: Folge Accounts, die dir guttun - egal ob das die Hausfrau ist, die ihr Leben liebt, die Karrierefrau, die ihre Erfolge feiert, der Vollzeit-Papa oder der CEO. Authentizität bedeutet nicht, gegen Konventionen zu rebellieren, sondern zu wissen, warum man tut, was man tut.
Die Mutter, die gerne Vollzeit für ihre Kinder da ist? Genauso wertvoll wie die, die Karriere macht. Der Vater, der Hauptverdiener sein will? Genauso legitim wie der, der in Elternzeit geht. Der entscheidende Unterschied: Machen sie es aus Überzeugung oder aus Pflichtgefühl?
Beim eigenen Content gilt dasselbe: Zeig, was du wirklich fühlst. Ob das der stolz aufgeräumte Wohnzimmertisch ist oder das kreative Chaos, ob du deine beruflichen Erfolge teilst oder deine Kochkünste - Hauptsache, es entspricht dir.
Die Grenzen der Freiheit: Ein ehrlicher Realitätscheck
De Beauvoirs Erkenntnis ist befreiend, aber seien wir ehrlich: Rollenwechsel kann seinen Preis haben. Die Frau, die sehr direkt kommuniziert, gilt schnell als "schwierig". Der Mann, der offen über Gefühle spricht, als "weich". Gesellschaftlicher Wandel ist zäh, und nicht jeder hat die gleichen Möglichkeiten, gegen den Strom zu schwimmen.
Wichtig auch: Der neue progressive Druck kann genauso einengend sein wie traditionelle Erwartungen. Die Frau, die gerne traditionell lebt, muss sich heute oft rechtfertigen. Der Mann, der klassisch männliche Hobbys hat, wird belächelt. Das ist nicht de Beauvoirs Punkt gewesen - ihr ging es um bewusste Wahl, nicht um vorgeschriebene Rebellion.
Es gibt auch biologische Realitäten - Hormone beeinflussen uns, körperliche Unterschiede existieren. De Beauvoir leugnete das nie. Ihr Punkt war: Diese Unterschiede rechtfertigen keine Hierarchien oder erzwungenen Lebenswege.
Der Mut zur eigenen Wahl
De Beauvoirs Botschaft ist keine Kampfansage an Traditionen, sondern eine Einladung zur Selbstreflexion: Erkenne, was anerzogen und was authentisch ist. Du musst nichts ändern, was für dich stimmt - aber du solltest wissen, dass du die Wahl hast.
Die entscheidende Frage lautet nicht: "Verhalte ich mich richtig männlich oder weiblich?" Sondern: "Verhalte ich mich wie ich selbst?" Manchmal wird die Antwort sein: "Ja, ich mag meine traditionelle Rolle." Manchmal: "Ich will etwas ganz anderes." Beides ist legitim.
Ja, es kann unbequem sein, eingefahrene Muster zu hinterfragen. Ja, Veränderung kann anstrengend sein. Aber es ist auch befreiend zu erkennen: Viele Käfige, in denen wir sitzen, haben offene Türen. Ob wir hindurchgehen oder drinbleiben - Hauptsache, wir entscheiden selbst.
Diskussionsfragen
Welche "typischen" Verhaltensweisen erkennst du bei dir als erlernt statt naturgegeben?
Wo fühlst du dich durch Rollenerwartungen eingeschränkt - und wo geben sie dir vielleicht auch Sicherheit?
Wie können wir Kindern Wahlfreiheit ermöglichen, ohne ihnen unsere eigenen Vorstellungen von "richtig" aufzudrängen?