Wie würdest du die Welt gestalten? Rawls' Gedankenexperiment für faire Entscheidungen
Serie: Denkwege - Lesedauer: 6 Minuten
Einleitung
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Team-Meeting. Es geht um die Verteilung des Jahresbonus. Die Führungskraft schlägt vor: 70% leistungsabhängig, 30% Grundbonus für alle. "Das ist doch fair", sagt sie. Die High-Performer nicken zustimmend. Die soliden Teamplayer runzeln die Stirn. Wer hat recht?
John Rawls würde sagen: Keiner von ihnen kann das objektiv beurteilen. Denn jeder weiß bereits, ob er zu den Leistungsträgern gehört oder nicht. Diese Voreingenommenheit ist menschlich – und genau hier setzt Rawls' geniales Gedankenexperiment an.
Der "Schleier des Nichtwissens" ist mehr als philosophische Theorie. Es ist ein praktisches Werkzeug, das uns hilft, fairere Entscheidungen zu treffen – im Team, in der Familie, in der Gesellschaft. Nach diesem Artikel werden Sie verstehen, wie Sie Ihre eigene Voreingenommenheit austricksen und zu Lösungen kommen, die wirklich für alle funktionieren.
Die Idee hinter dem Schleier
1971 veröffentlichte der Harvard-Philosoph John Rawls "A Theory of Justice". Seine Kernfrage: Wie können wir gerechte Gesellschaftsregeln finden, wenn jeder seine eigenen Interessen verfolgt? Die Antwort ist verblüffend einfach und revolutionär zugleich.
Rawls lädt uns zu einem Gedankenexperiment ein: Stellen Sie sich vor, Sie müssten die Grundregeln einer Gesellschaft festlegen. Der Haken: Sie wissen nicht, welche Position Sie in dieser Gesellschaft einnehmen werden. Reich oder arm? Gesund oder krank? Mann oder Frau? Jung oder alt? Dieser "Schleier des Nichtwissens" zwingt Sie, aus reinem Eigeninteresse fair zu denken.
Dahinter steckt eine tiefe Einsicht über menschliche Psychologie. Wir sind Meister darin, unsere Vorteile als "verdient" und "gerecht" zu rationalisieren. Der Unternehmer sieht niedrige Steuern als Leistungsanreiz, der Sozialhilfeempfänger höhere Steuern als notwendige Umverteilung. Der Gutverdiener findet Boni-Systeme motivierend, der Durchschnittsverdiener bevorzugt fixe Gehälter. Beide glauben aufrichtig, objektiv zu argumentieren. Rawls entlarvt diese Selbsttäuschung. Sein Werkzeug zwingt uns, wirklich alle Perspektiven einzunehmen – weil wir nicht wissen, welche unsere sein wird.
Der Schleier im Alltag
Im Team: Die Projekt-Lotterie Ein Startup-Team stand vor der Frage: Wie verteilen wir spannende und langweilige Projekte fair? Die übliche Methode – der Chef entscheidet – führte zu Frust. Also probierten sie Rawls' Methode: Erst legten alle gemeinsam Kriterien fest (Rotation, Kompetenz, Entwicklungspotential), ohne zu wissen, welches Projekt sie bekommen würden. Das Ergebnis? Regeln, die alle als fair empfanden – auch nachdem die Projekte verteilt waren. Der Trick: Die Kriterien entstanden, bevor persönliche Interessen ins Spiel kamen.
In der Familie: Der Haushalts-Vertrag Eine Familie mit zwei Teenagern hatte ständig Streit über Hausarbeit. Die Lösung: Alle setzten sich zusammen und entwarfen einen "Haushalts-Vertrag" – aber mit vertauschten Rollen. Die Eltern argumentierten aus Teenager-Sicht, die Kinder aus Elternsicht. Plötzlich verstanden die Kids, warum gewisse Standards wichtig sind. Die Eltern erkannten, dass manche Regeln tatsächlich überzogen waren. Das Ergebnis war ein Kompromiss, den alle mittragen konnten. Nicht perfekt, aber deutlich fairer als vorher.
In der Gesellschaft: Die Renten-Frage Die Rentendebatte ist ein Paradebeispiel: Junge Menschen wollen niedrige Beiträge, Ältere sichere Renten. Rawls würde fragen: Welches System würden Sie wählen, wenn Sie nicht wüssten, ob Sie 25 oder 65 sind? Plötzlich wird klar: Ein System, das beiden Generationen gerecht wird, liegt im Interesse aller. Das bedeutet weder Minimal- noch Maximalrenten, sondern einen ausgewogenen Generationenvertrag. Aber – und das ist wichtig – nur wenn niemand weiß, zu welcher Generation er gehört.
Wo der Schleier reißt
Rawls' Methode ist kraftvoll, aber nicht allmächtig. Kritiker wie Michael Sandel weisen zurecht darauf hin: Völlige Neutralität ist eine Illusion. Unsere Erfahrungen prägen uns so tief, dass wir den Schleier nie vollständig überziehen können. Eine Mutter kann nicht vergessen, dass sie Mutter ist. Ein Behinderter nicht, dass er behindert ist.
Außerdem funktioniert die Methode schlecht bei fundamentalen Wertkonflikten. Soll Leistung belohnt werden oder brauchen alle das Gleiche? Darauf gibt Rawls keine eindeutige Antwort. Er tendiert zum "Unterschiedsprinzip" – Ungleichheiten sind nur gerechtfertigt, wenn sie den Schwächsten nutzen. Aber das ist seine Interpretation, nicht die einzig mögliche.
Und manchmal ist Gleichbehandlung schlicht ungerecht. Ein Rollstuhlfahrer braucht Rampen, ein Sehender nicht. Eine Alleinerziehende braucht flexible Arbeitszeiten, ein Single vielleicht nicht. Der Schleier des Nichtwissens kann diese Unterschiede nicht wegzaubern. Er hilft uns aber, sie fairer zu berücksichtigen.
DISKUSSIONSFRAGEN
Welche Regel würdest du für Homeoffice in deinem Unternehmen aufstellen, wenn du nicht wüsstest, ob du Führungskraft oder Berufseinsteiger bist?
Wie würde unsere Gesellschaft aussehen, wenn wirklich alle Gesetze hinter dem "Schleier des Nichtwissens" entstanden wären?
Gibt es Situationen, in denen bewusste Ungleichbehandlung gerechter ist als Gleichbehandlung?
Kannst du dir wirklich vorstellen, nicht zu wissen, wer du bist – oder ist das eine philosophische Unmöglichkeit?