"Werde, wer du bist" – Zwischen Selbstfindung und Selbsterschaffung

Friedrich Nietzsche (1844-1900)

Serie: Philosophenzitate Lesedauer: ca. 5 Minuten

Einstieg

"Was willst du mal werden?" Diese Frage verfolgt uns von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Erst geht es um Berufe, später um Lebensentwürfe, schließlich um die Person, die wir sein wollen. Doch während wir zwischen LinkedIn-Optimierung und Instagram-Inszenierung navigieren, zwischen Familienerwartungen und gesellschaftlichen Normen jonglieren, verlieren wir oft den Kontakt zu einer entscheidenden Frage: Wer will eigentlich ich werden?

Friedrich Nietzsche hätte über unsere moderne Selbstfindungs-Obsession vermutlich geschmunzelt. Sein berühmtes "Werde, der du bist" meint nämlich etwas grundlegend anderes als das, was Selbsthilfe-Ratgeber heute predigen. Es geht nicht darum, ein verborgenes "wahres Ich" zu entdecken, das irgendwo in uns schlummert. Nietzsche spricht von etwas viel Anspruchsvollerem: der bewussten Erschaffung seiner selbst.

Diese Unterscheidung ist keine philosophische Spitzfindigkeit. Sie entscheidet darüber, ob wir unser Leben als Schatzsuche verstehen – oder als Kunstwerk, das wir aktiv gestalten.

Historischer Kontext und Kernidee

Als Nietzsche 1882 in "Die fröhliche Wissenschaft" schrieb "Du sollst der werden, der du bist", befand er sich selbst mitten in einem radikalen Selbstwerdungsprozess. Nach seinem Bruch mit Richard Wagner, dem Verlust seiner Professur und zunehmender gesellschaftlicher Isolation musste er sein Leben neu erfinden. Das Zitat, das er vom griechischen Dichter Pindar adaptierte, wurde zu seinem persönlichen Manifest.

Doch was meinte Nietzsche genau? Der Philosoph wandte sich gegen zwei Illusionen seiner Zeit, die heute aktueller denn je sind. Erstens: Die Vorstellung, wir hätten einen vorgegebenen Wesenskern, den es nur freizulegen gilt. Zweitens: Die Annahme, wir sollten uns an externe Ideale anpassen, seien es gesellschaftliche Normen oder bewunderte Vorbilder.

Stattdessen fordert Nietzsche etwas Radikaleres: Selbsterschaffung durch bewusste Entscheidungen und Handlungen. Du bist weder Schicksal noch Kopie – du bist Künstler und Kunstwerk zugleich. Jede Entscheidung, jede Handlung formt dich. Du "findest" dich nicht, du erschaffst dich.

Das klingt befreiend, ist aber auch beängstigend. Denn es bedeutet volle Verantwortung. Keine Ausreden mehr wie "So bin ich eben" oder "Das entspricht nicht meinem wahren Selbst". Nietzsche konfrontiert uns mit einer unbequemen Wahrheit: Wir sind das, was wir aus uns machen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Wichtig dabei: Selbsterschaffung bedeutet für Nietzsche nicht regellosen Egoismus. Er unterscheidet scharf zwischen dem "höheren Selbst", das wir erschaffen können, und den niederen Impulsen des Augenblicks. Es geht um bewusste Gestaltung, nicht um spontane Beliebigkeit.

Praktische Anwendung in drei Lebensbereichen

Berufliche Neuausrichtung: Der Mut zum Kurswechsel

Du merkst seit Monaten, dass dein Job dich nicht erfüllt. Die Kollegen sind nett, das Gehalt stimmt, aber innerlich bist du längst gekündigt. Nietzsches Ansatz würde hier nicht lauten: "Finde deine Berufung!" Sondern: "Welche berufliche Version von dir willst du erschaffen?"

Praktisch heißt das: Statt auf die perfekte Erleuchtung zu warten, kleine Experimente wagen. Nebenprojekte starten. Neue Fähigkeiten erlernen. Netzwerke in anderen Bereichen aufbauen. Du wartest nicht darauf, deine Leidenschaft zu "entdecken" – du entwickelst sie durch konkretes Handeln.

Aber – und das ist wichtig – das funktioniert nicht immer. Wer Kinder ernähren muss oder Angehörige pflegt, kann nicht einfach alles hinwerfen. Nietzsches Selbsterschaffung ist ein Privileg, das nicht alle haben. Manchmal ist das Beste, was wir tun können, kleine Freiräume zu schaffen und dort zu experimentieren.

Digitale Authentizität: Zwischen Inszenierung und Echtheit

Social Media konfrontiert uns täglich mit der Frage: Wer bin ich online? Nietzsches Antwort wäre provokant: Du bist das, was du postest. Nicht im oberflächlichen Sinn, sondern als bewusster Gestaltungsakt.

Statt zu fragen "Zeigt das mein wahres Ich?", könntest du fragen: "Welche Version von mir will ich durch meine Online-Präsenz erschaffen?" Das befreit vom Zwang zur vermeintlichen Authentizität und erlaubt bewusste Kuration. Du kannst deine inspirierte Seite zeigen, ohne zu lügen. Du kannst Schwächen teilen, ohne dich zu entblößen.

Die Grenze: Wenn die Online-Performance zur Sucht wird. Wenn die Likes wichtiger werden als die realen Beziehungen. Dann erschaffst du dich nicht mehr selbst, sondern wirst zum Algorithmus-Sklaven.

Familiäre Balance: Tradition und Transformation

Deine Familie erwartet, dass du bestimmte Traditionen fortführst. Das Unternehmen übernimmst. Den Glauben praktizierst. Die Feste so feierst wie immer. Nietzsches Selbstwerdung bedeutet hier nicht, alles über Bord zu werfen.

Es bedeutet zu entscheiden: Welche Traditionen mache ich mir zu eigen? Welche forme ich um? Welche lasse ich respektvoll hinter mir? Du erschaffst deine eigene Version des Familienerbes – eine, die deine Geschichte ehrt, aber deine Zukunft nicht fesselt.

Grenzen und realistische Einordnung

Selbstwerdung im Sinne Nietzsches ist kein Wellness-Programm. Es ist harte Arbeit an sich selbst, oft schmerzhaft, manchmal einsam. Und es hat klare Grenzen: Nicht jeder hat die gleichen Möglichkeiten zur Selbstgestaltung. Strukturelle Ungleichheit, psychische Erkrankungen, wirtschaftliche Zwänge – all das schränkt unseren Gestaltungsspielraum ein.

Trotzdem bleibt Nietzsches Einsicht wertvoll: In den Räumen, die uns bleiben, sind wir Gestalter, nicht Finder. Wir erschaffen uns durch unsere Entscheidungen. Manchmal in großen Sprüngen, öfter in kleinen Schritten. Das ist keine Garantie für Glück, aber vielleicht für etwas Wichtigeres: ein Leben, das wirklich unseres ist.

Diskussionsfragen

  1. Wie unterscheidest du zwischen dem, was du wirklich willst, und dem, was du glaubst wollen zu sollen?

  2. Gibt es Aspekte deiner Persönlichkeit, die du als "unveränderlich" ansiehst – und stimmt das wirklich?

  3. Wo ziehst du die Grenze zwischen Selbstgestaltung und Anpassung an andere?

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