Warum gute Menschen Böses tun
Warum gute Menschen Böses tun - Ein Werkstattbericht
Diese Woche sitze ich zwischen Stapeln von Büchern über Ethik und Zeitungsartikeln über Skandale. Die Frage, die mich umtreibt: Warum treffen Menschen, die sich selbst für gut halten, manchmal katastrophale Entscheidungen? Vom VW-Dieselskandal bis zum Freund, der "aus Höflichkeit" lügt - überall dasselbe Muster.
Die drei Fallen
Beim Durcharbeiten der großen Ethiker - Kant, Mill, Aristoteles - wurde mir etwas klar: Jeder hat einen wichtigen Punkt, aber isoliert betrachtet führt jeder Ansatz in eine Falle.
Die Ergebnis-Falle erwischt die Macher und Pragmatiker. "Der Zweck heiligt die Mittel" wird zur Rechtfertigung für alles. Der Manager, der Leute entlässt "für die Firma". Der Arzt, der Studien fälscht "für die Wissenschaft". Der Aktivist, der Gewalt anwendet "für die gute Sache". Sie sehen nur noch das Ziel, nicht mehr den Weg. Mill würde sagen: Das größte Glück für die größte Zahl. Aber wer definiert das Glück? Und was ist mit denen, die darunter leiden?
Die Regel-Falle schnappt bei den Prinzipientreuen zu. "Vorschrift ist Vorschrift" wird zum Totschlagargument. Der Beamte, der den Härtefall ablehnt, weil "die Regeln keine Ausnahme vorsehen". Der Kollege, der den Fehler meldet, obwohl er die Existenz eines anderen zerstört. Die Eltern, die ihr Kind verstoßen, weil es gegen ihre Prinzipien lebt. Sie folgen Kant's kategorischem Imperativ bis zur Unmenschlichkeit. Regeln ohne Kontext, Prinzipien ohne Mitgefühl.
Die Image-Falle ist die subtilste. "Was denken die anderen?" bestimmt das Handeln. Der Politiker, der nur macht, was ankommt. Die Influencerin, die für Likes ihre Werte verkauft. Der Nachbar, der wegschaut, um nicht anzuecken. Sie pervertieren Aristoteles' Tugendethik zu reiner Außenwirkung. Nicht "Wer will ich sein?", sondern "Wie will ich gesehen werden?"
Das Tückische daran
Jede Falle tarnt sich als Tugend. Die Ergebnis-Orientierten nennen sich "pragmatisch" und "lösungsorientiert". Die Regel-Befolger sehen sich als "prinzipientreu" und "integer". Die Image-Bewussten halten sich für "sozial kompetent" und "empathisch".
Diese Woche habe ich vor allem über eigene Entscheidungen nachgedacht und dabei erkannt: Ich tappe selbst ständig in diese Fallen. Der Klassiker bei mir ist die Ergebnis-Falle - "wird schon gutgehen" als Rechtfertigung für Abkürzungen. Aber auch die Image-Falle kenne ich gut - wie oft sage ich Ja, nur um keinen zu enttäuschen? Das Muster wiederholt sich überall: Wir fokussieren uns auf eine Dimension und blenden den Rest aus.
Mein Experiment
Ich teste gerade einen anderen Ansatz: Bei jeder schwierigen Entscheidung alle drei Brillen aufsetzen. Was sind die Folgen - für alle Beteiligten? Welche Prinzipien stehen auf dem Spiel - und wo müssen sie vielleicht kollidieren? Wer bin ich, wenn ich so handle - unabhängig davon, wie es aussieht?
Das ist keine perfekte Lösung. Im Gegenteil: Es macht Entscheidungen erstmal komplizierter. Aber vielleicht ist genau das der Punkt. Vielleicht ist die Illusion der einfachen Antwort das eigentliche Problem.
Work in Progress
Diese Woche habe ich mehr Fragen als Antworten gefunden. Wie balanciert man die drei Perspektiven? Gibt es Situationen, wo eine dominieren sollte? Und vor allem: Wie entkommt man der Falle, in der man gerade steckt?
Ich arbeite daran, aus diesen Überlegungen ein praktisches Werkzeug zu entwickeln. Etwas, das hilft, die eigenen blinden Flecken zu erkennen, bevor sie zu Katastrophen führen. Keine moralische Überlegenheit, sondern ein Kompass für die eigene Fehlbarkeit.
Die Erkenntnis dieser Woche: Gute Menschen tun nicht Böses, weil sie böse werden. Sie tun es, weil sie zu einseitig gut sein wollen. Der Weg zur Hölle ist tatsächlich mit guten Absichten gepflastert - aber nur mit guten Absichten aus einer einzigen Perspektive.
Nächste Woche arbeite ich daran, wie man diese drei Perspektiven praktisch integriert. Mal sehen, ob sich aus der Theorie ein alltagstaugliches Navigationswerkzeug entwickeln lässt. Die Philosophie-Bücher bleiben erstmal aufgeschlagen.