Wann kippt Kritik in Hinrichtung?
Wann kippt Kritik in Hinrichtung? Ein Werkstatt-Blick
Diese Woche sitze ich vor einer Frage, die mich nicht loslässt: Wann wird aus berechtigter öffentlicher Kritik eine digitale Hinrichtung?
Der Auslöser war eine Situation in meiner Timeline. Eine Person hatte etwas Problematisches gesagt. Völlig berechtigt, das zu kritisieren. Aber was dann folgte, fühlte sich anders an: Tausende von Menschen, die nicht mehr das Problem besprachen, sondern die Person vernichten wollten. Arbeitgeber wurde angeschrieben. Private Infos geteilt. Jedes vergangene Statement ausgegraben.
Und ich stand da mit meinem Like-Button und dachte: Moment. Wo bin ich hier gerade?
Mir ist klar geworden: Es gibt drei verschiedene Ebenen, die ich oft durcheinanderbringe:
Kritik an Verhalten – "Was du getan hast, ist problematisch"
Konsequenz für Position – "Du bist für diese spezifische Funktion ungeeignet"
Vernichtung der Person – "Du sollst nirgendwo mehr sein dürfen"
Die ersten beiden können berechtigt sein. Die dritte ist eine Grenzüberschreitung.
Aber wie unterscheide ich das in einer hitzigen Timeline? Ich habe verschiedene Ansätze ausprobiert. Ehrlich gesagt: Keiner funktioniert zuverlässig.
Warum das relevant ist
Das Problem ist nicht neu, aber die Dynamik ist eine andere geworden. Vor Social Media brauchte es Institutionen – Medien, Gerichte, Organisationen – um jemanden öffentlich zu kritisieren. Heute reicht ein viraler Thread.
Das ist nicht per se schlecht. Viele Missstände wurden erst durch öffentlichen Druck sichtbar. Menschen ohne institutionelle Macht bekamen eine Stimme. Strukturelle Probleme wurden benennbar. Und manchmal führte das zu berechtigten Konsequenzen: Jemand konnte eine bestimmte Position nicht mehr ausüben, weil die Anforderungen nicht erfüllt waren.
Aber es gibt eine Kehrseite: Die gleichen Mechanismen, die jemanden aus einer ungeeigneten Position entfernen, können auch zur kompletten Vernichtung einer Person führen. Nicht mehr nur "Du kannst nicht mehr Lehrer sein", sondern "Du sollst nirgendwo mehr arbeiten dürfen, keine sozialen Kontakte mehr haben, aus der Gesellschaft verschwinden".
Hannah Arendt hat zwischen Macht und Gewalt unterschieden. Macht entsteht, wenn Menschen zusammenkommen und gemeinsam handeln. Gewalt entsteht, wenn diese Macht sich nicht mehr gegen ein Problem richtet, sondern darauf zielt, jemanden zu vernichten.
Und genau da liegt mein Unbehagen: Wie erkenne ich, wann ich von berechtigter Kritik oder Konsequenz zu illegitimer Vernichtung überspringe?
Was ich ausprobiere
Ich habe verschiedene Ansätze ausprobiert, um die drei Ebenen auseinanderzuhalten.
Manchmal frage ich: Geht es noch ums Problem?
Beispiel: Jemand macht als Lehrer systematisch diskriminierende Aussagen. Wenn die Reaktion ist "Du bist als Lehrer ungeeignet" – das fokussiert auf das Problem. Die Anforderung (Schüler nicht diskriminieren) ist nicht erfüllt.
Aber wenn die Reaktion ist "Du darfst nie wieder in irgendeinem Beruf arbeiten" – dann geht es nicht mehr ums ursprüngliche Problem. Die Person wird für jede gesellschaftliche Teilhabe gesperrt.
Die Frage hilft mir manchmal: Würde das Problem gelöst, wenn diese spezifische Konsequenz eintritt? Oder geht die Forderung weit darüber hinaus?
Manchmal frage ich: Wird Verhalten oder die Person selbst angegriffen?
"Diese Aussage ist diskriminierend, weil sie Menschen in Kategorie X abwertet" – das kritisiert eine spezifische Handlung. Die Person bleibt handlungsfähig. Sie kann darauf reagieren: korrigieren, entschuldigen, lernen.
"Du bist ein schlechter Mensch und verdienst keine Plattform, keine Arbeit, kein öffentliches Leben mehr" – das verdammt die gesamte Existenz. Die Person selbst wird zum Problem, das beseitigt werden muss.
Zwischen diesen beiden kann es liegen: "Du bist als Lehrer ungeeignet" – das ist eine Konsequenz für eine spezifische Funktion. Nicht Vernichtung, sondern Ungeeignetheit für Anforderungen.
Manchmal frage ich: Gibt es noch Raum für irgendeine Zukunft?
"Du kannst nicht mehr Lehrer sein" heißt nicht zwingend "Du kannst dich nie ändern". Es kann bedeuten: "Für diese spezifische Funktion bist du aktuell ungeeignet."
Aber was ich beobachte: Oft wird aus der berechtigten Konsequenz ("nicht mehr für diese Position geeignet") eine lebenslange Verdammung ("darf nie wieder irgendwo arbeiten, keine Plattform haben, keine sozialen Kontakte").
Die Frage: Geht es darum, dass jemand aktuelle Anforderungen nicht erfüllt – oder darum, dass die Person keine Zukunft mehr haben darf?
Was funktioniert, was nicht
Ehrlich gesagt: Keine dieser Fragen funktioniert zuverlässig.
Was mir am meisten hilft, ist nicht eine Methode, sondern innezuhalten und zu fragen: Auf welcher Ebene bin ich gerade?
Kritisiere ich Verhalten?
Ziehe ich eine Konsequenz für Ungeeignetheit?
Oder bin ich schon bei Vernichtung?
Manchmal erkenne ich dann: Ja, diese Person ist für diese Position ungeeignet – das ist eine berechtigte Konsequenz. Manchmal erkenne ich: Das geht weit über Konsequenz hinaus, hier soll jemand gesellschaftlich ausgelöscht werden.
Aber es gibt Situationen, wo ich komplett scheitere:
Bei mächtigen Personen mit langer Vorgeschichte. Wenn jemand jahrelang systematisch geschadet hat – wie viel Konsequenz ist dann angemessen? Wann kippt "Du bist für diese Funktion ungeeignet" in "Du sollst nirgendwo mehr sein"?
Bei meinen eigenen blinden Flecken. Vielleicht finde ich etwas unverhältnismäßig, weil ich die Vorgeschichte nicht kenne. Vielleicht bin ich zu nachsichtig, weil ich mich mit der Person identifiziere. Oder zu hart, weil ich selbst betroffen war.
Bei komplexen Machtgefällen. Manchmal sind die Anforderungen an eine Position so hoch, dass "ungeeignet" faktisch bedeutet: Ende der Karriere in diesem Bereich. Ist das dann noch Konsequenz oder schon Vernichtung?
Ich habe kein System gefunden, das zuverlässig funktioniert. Aber die Drei-Ebenen-Unterscheidung hilft mir zumindest, nicht blind mitzumachen bei etwas, das ich später bereue. Manchmal.